Sozialarbeit mit Kindern zielt auch auf die Eltern

Wer nachhaltig die Lebenssituation einer ganzen Bevölkerungsgruppe verbessern will, muss bei den Kindern anfangen. Zahlreiche Organisationen in Balkan-Staaten unterhalten darum Tageszentren, die von Kindern aus gesellschaftlich benachteiligten Gruppen besucht werden. Erwünschter Nebeneffekt dabei ist der enge Kontakt zu den Eltern.

Manche bezeichnen Irena Velkoska als die „Mutter von Šutka“, und wer sie bei der Arbeit besucht, ist geneigt, dem zuzustimmen. „Ich versuche einfach immer, alles zu tun, was ich kann. Wenn es kein Essen mehr gibt, dann bringe ich welches von Zuhause mit“, sagt Velkoska. „Man kann doch nicht einfach die Türen schließen und die Kinder sich selbst überlassen.“ Velkoska engagiert sich in Šuto Orizari, einem Viertel im Norden der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Es ist die größte Roma-Siedlung in Europa und die einzige Gemeinde, in der Romanes Amtssprache ist. Im Jahr 2006 eröffnete die Nichtregierungsorganisation „Defense for Children’s Rights (DCR)“ im Zentrum des Stadtteils eine Tagesstätte. Seitdem arbeiten Irena Velkoska, die Sozialarbeiterin Vasilka Jovanoska und ihre Mitarbeiterinnen daran, eine Zukunftsperspektive für Roma-Familien aufzubauen.

Wenn das Tageszentrum morgens um 8 Uhr öffnet, warten die ersten Kinder bereits ungeduldig vor der Tür. Wer ungewaschen ist, bekommt eine Dusche, dann gibt es für alle Frühstück. Danach beginnt der Unterricht zur Vorbereitung oder Unterstützung des Schulbesuchs. Mit der Schule wird eng zusammengearbeitet – das fängt schon bei der Klärung mit der Verwaltung an, wie die Einschulung von Kindern auch ohne die oft nicht vorhandene Geburtsurkunde geregelt werden kann. In den acht Stunden, die das Tageszentrum täglich geöffnet hat, kommen nicht selten 100 oder mehr Kinder in das Zentrum, wo sie von einem kleinen Team aus Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Lehrerinnen betreut werden.

Die Sozialarbeit zielt auch auf die Eltern

Viele der Kinder hier sind sozial vernachlässigt und wurden von ihren eigenen Eltern zum Betteln geschickt. „Die Kinder wurden von der Straße erzogen“, erzählt Vasilka, die seit 2009 im Tageszentrum arbeitet. Damit das nicht so bleibt, geht es bei der sozialen Arbeit hier auch um die Eltern. Ihnen soll vermittelt werden, dass sie für die Entwicklung ihrer Kinder und ihrer Potenziale verantwortlich sind. „Früher wurden Kinder bereits mit 13 oder 14 Jahren verheiratet, und das nannte sich dann Tradition“, sagt Irena Velkoska. Hier im Tageszentrum lernen Kinder wie Eltern, dass es Alternativen zu dieser Tradition gibt.

Im Laufe der Jahre hat sich die Situation in Šuto Orizari dank der hartnäckigen Aufklärungsarbeit langsam verbessert. Nach und nach verstehen mehr Eltern, dass Kinder mit 13 Jahren nicht heiratsfähig sind, und zunehmend werden auch die Kinder selbstbewusster und behaupten sich gegen solche Zumutungen. „Aber es ist immer noch harte Arbeit“, sagt Irena Velkoska. Man habe auch schon mal uneinsichtige Eltern bei der Polizei anzeigen müssen. Und dennoch: Der Erfolg des Tageszentrums spiegelt sich in den Zahlen wider: Im Jahr 2017 wurden 80 Kinder in das Schulsystem eingegliedert, von denen 76 das Schuljahr erfolgreich abschlossen. Nur vier fielen aus – weil sie verheiratet wurden. Nur wenige Jahre davor hatten weniger als die Hälfte der Kinder das Schuljahr abgeschlossen. Mitunter wurden ein Viertel aller Schüler und Schülerinnen verheiratet und verschwanden aus der Schule.

Fundraising-Workhops stärken die materielle Basis der Sozialarbeit

Der Erfolg geht auch auf die Zusammenarbeit mit dem und die Unterstützung durch das GIZ-Projekt „Soziale Rechte vulnerabler Gruppen“ zurück. Irina Velkoska und die Mitarbeiterinnen des Tageszentrums haben in Fort- und Weiterbildungen, die das GIZ-Projekt ermöglicht hat, viel über Fundraising und Buchhaltung gelernt und damit auch die materielle Basis ihrer Arbeit gestärkt. Auch die überregionalen Austauschprogramme und damit eine Einsicht in die Sozialarbeit in anderen Städten des Westbalkans haben ihnen neue Ideen vermittelt und neuen Mut gegeben. Deshalb können sie sich heute höhere Ziele stecken und bemühen sich, Einkommensmöglichkeiten für „ihre“ Kinder nach dem Schulabschluss zu schaffen – etwa durch den Verkauf der aufwändig produzierten Straßenzeitung „Face to Face“, einem Kooperationspartner des GIZ-Projekts „Soziale Rechte vulnerabler Gruppen“. Besonders stolz sind Irena Velkoska und ihre Kolleginnen auf Selma, die erste Romni hier im Norden von Skopje, die das Abitur bestanden hat. „In vielen Familien wird Bildung nicht als Weg aus der Armut gesehen“, weiß Irena Velkoska. „Das treibt uns an.“

 

Text: FLMH | Fotos: ©BENNY GOLM