Staatliche Leistungen werden oft vom Schreibtisch aus entworfen. Doch wer bedürftige Menschen unterstützen möchte, muss erst einmal ihre Bedürfnisse kennen. Wie aber stellt man das an in Ländern, in denen viele gar nicht wissen, was ihnen zusteht und die staatlichen Behörden außerdem als feindlich erleben? „Social Mapping“ ist ein Ansatz, der in Bosnien und Herzegowina Bedürftige und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zusammenbringt.
Wenn Adnan Drndić und Elsada Horozić sich an die Arbeit machen, fahren sie zuerst einmal „aufs Land“. Die beiden sind ein Team und arbeiten für die Nichtregierungsorganisation „Zemlja Djece u BiH“, was „Das Land der Kinder in Bosnien und Herzegowina“ bedeutet. Der Sozialarbeiter und die Kinderpsychologin betreuen Menschen, die sozial und räumlich ausgegrenzt außerhalb der Stadt wohnen. Wie die anderen Teams von „Zemlja Djece u BiH“ fahren Drndić und Horozić direkt in die Siedlungen, um die Anwohnerinnen und Anwohner vor Ort zu beraten und zu unterstützen.
Sie haben viel zu tun in Kiseljak, einer Siedlung am Rand des Stausees Modrač. Hier leben rund tausend Menschen, die Hälfte davon Roma, in ärmlichen Behausungen. Hin und wieder fährt ein Bus ins 15 Kilometer entfernte Tuzla. Zum Einkaufen gibt es nur einen kleinen Kiosk. „90 Prozent der Leute hier wollen weg“, sagt Drndić. „Sie würden sofort aufbrechen, wenn sie die Mittel dafür hätten.“ Doch davon kann keine Rede sein – nahezu niemand hier hat ein regelmäßiges Einkommen, die Sozialhilfe, die oft mit monatelanger Verspätung ausgezahlt wird, reicht gerade zum Überleben.
Outreach-Arbeit heißt, zu den Menschen zu gehen, die nicht zu dir kommen
Adnan Drndić weiß das alles ganz genau. Er hat 2013 mit dem „Social Mapping“ rund um Tuzla begonnen. Er ist von Haus zu Haus gegangen, hat mit den Menschen geredet, sich ihre Probleme angehört und dabei ein Bild von ihrer sozialen Lage gewonnen. Um es ganz genau zu wissen, hat er Fragebögen entworfen: Wie viele Familien leben hier? Wie viele Kinder haben sie, und gehen die zur Schule? Welchen rechtlichen Status haben die Menschen, haben sie Geburtsurkunden, sind sie offiziell gemeldet? Wie sind ihre Häuser ausgestattet und welche unmittelbaren Bedürfnisse haben sie? Es sind jede Menge Dinge, die Adnan Drndić wissen will. Aber mit seinen Fragen hat er einen völlig neuen Ansatz in die Sozialarbeit eingeführt.
Das GIZ-Projekt „Soziale Rechte vulnerabler Gruppen“, das in den Ländern des westlichen Balkans innovative Ansätze in der Sozialarbeit fördert, hat „Social Mapping“ und Outreach- Arbeit in mehrere andere Städte übertragen. Dieser Ansatz führt die Sozialämter direkt zu den Menschen vor Ort. Bislang hatten die Ämter keinen direkten Kontakt zu ihren Communities, sie wussten noch nicht einmal, wie viele Menschen dort lebten. „Es gab über die Jahre schon viele Pläne in Bosnien, die ohne Wirkung geblieben sind“, berichtet Drndić. „Man muss sich halt die Mühe machen, selbst hinzugehen und nachzuschauen. Heute haben wir genaue Zahlen und kennen auch die Menschen, die hinter den Zahlen stehen.“ Jetzt lässt sich also auch viel genauer planen, welche materiellen und personellen Ressourcen und welche Hilfen benötigt werden.
Wer über seine Rechte Bescheid weiß, engagiert sich auch für deren Einhaltung
Die Outreach-Arbeit hat aber noch zu etwas anderem geführt: Die Menschen in den Siedlungen sind nun besser informiert über ihre Möglichkeiten, sie wissen, wen sie ansprechen können und welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um Unterstützung zu erhalten. „Für Menschen, die die staatliche Bürokratie zumeist als desinteressiert oder feindlich erleben, ist schon das Wissen über die Existenz eines bestimmten Formulars von großer Bedeutung“, sagt Adnan Drndić.
Überzeugt vom Vorteil dieser Methode, engagieren sich inzwischen einige von ihnen selbst ehrenamtlich im „Social Mapping“. Sie kümmern sich um ihre Nachbarschaft, besuchen andere Familien daheim und füllen mit ihnen zusammen eine Sozialkarte aus, in der alle wichtigen Daten eingetragen werden und die etwa beim Besuch des Sozialamtes vorgelegt wird – eine wichtige Hilfe für die Erwachsenen, von denen die meisten kaum oder gar nicht lesen und schreiben können. Dabei werden die Freiwilligen nach und nach auch zu Mediatorinnen und Mediatoren und Beraterinnen und Beratern, schlichten Konflikte, überzeugen die Eltern davon, ihre Kinder zur Schule zu schicken und vor dem Straßenleben zu bewahren.
„Unsere Outreach-Arbeit ist ein großer Erfolg“, erzählt die Kinderpsychologin Elsada Horozić, die Adnan Drndić bei seinen Touren begleitet. Durch Präsenz, Zuhören, Beratung und Unterstützung haben die beiden viel Vertrauen aufgebaut. Das Ergebnis ist ein spürbar gewachsenes Selbstvertrauen der Menschen in den Siedlungen. „Inzwischen besuchen 90 Prozent der Roma-Kinder hier einigermaßen regelmäßig die Schule – das haben wir auch durch das ‚Social Mapping‘ und die Freiwilligenarbeit erreicht.“
Text: FLMH | Fotos: ©ZORANA MUŠIKIĆ