Ehefrau, Mutter und Hausfrau – in Bosnien und Herzegowina ist der Weg für Mädchen aus Roma-Familien meist klar vorgezeichnet. Sanita Smajić wollte das nicht akzeptieren. Heute ist sie an der Universität von Bijeljina die erste studierende Romni. Ihre Durchsetzungskraft hat sie auch einer Nichtregierungsorganisation zu verdanken.
Acht Stufen muss man erklimmen, um in die Pädagogische Fakultät in der bosnischen Stadt Bijeljina zu gelangen. Eigentlich keine große Sache, aber für Sanita Smajić fühlt sich der Weg über diese Stufen noch immer besonders an. Die 22-jährige Romni ist in Bosnien eine Ausnahme. Sie hat nicht nur eine abgeschlossene Schulausbildung, sondern ist im zweiten Jahr an der Universität von Bijeljina eingeschrieben, einer Stadt im Nordosten des Landes. An ihrer Universität ist Sanita die erste Romni-Studentin überhaupt.
Auch an anderen bosnischen Universitäten sind Roma-Studierende die Ausnahme. Die meisten der geschätzten 70.000 Roma in Bosnien und Herzegowina leben am Rande der Gesellschaft ohne Zugang zum staatlichen Bildungssystem. Und Romnija haben es gleich doppelt schwer: Sie werden nicht nur wegen ihrer Zugehörigkeit zur Roma-Minderheit diskriminiert, sondern leben in patriarchalisch geprägten Gemeinschaften und können meist nicht frei entscheiden, welches Leben sie führen wollen. Schulbildung wird nicht wertgeschätzt, und Mädchen müssen schon früh heiraten oder zum Familieneinkommen beitragen.
„Was will sie denn an der Uni, sie ist doch im heiratsfähigen Alter?“
Dass aus Sanita die erste Romni-Studentin wurde, hat sie auch der Nichtregierungsorganisation Otaharin zu verdanken, die sich dafür stark macht, dass Kinder aus Roma-Familien zur Schule gehen. Und dem GIZ-Projekt „Soziale Rechte vulnerabler Gruppen“, das in den Ländern des westlichen Balkans daran arbeitet, die Lebensbedingungen von Menschen aus sozial benachteiligten Gruppen zu verbessern. Schon für ihren Schulabschluss hatte Sanita in ihrer Familie immer wieder kämpfen müssen, denn groß geworden ist sie in einer überwiegend von Roma bewohnten Siedlung am Rande von Bijeljina. Hier war es nicht üblich, dass die Kinder zur Schule gingen. „Wenn überhaupt, waren wir damals nur zehn Roma-Kinder an der gesamten Grundschule“, erinnert sie sich. Im Begegnungszentrum von Otaharin, das vom GIZ-Projekt „Soziale Rechte vulnerabler Gruppen“ unterstützt wird, wurde Sanita mit Schulbüchern ausgestattet. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter dort redeten aber vor allem auf ihre Eltern ein, die Tochter die Mittelschule abschließen zu lassen.
Niemals hätten ihre Eltern ihr die Erlaubnis zum Studium gegeben, da ist sich Sanita sicher. Sie sollte Geld verdienen nach der Mittelschule. Stattdessen schrieb sie sich heimlich an der Universität ein und stellte die Eltern vor vollendete Tatsachen. Die waren zunächst richtig sauer über die Eigeninitiative ihrer Tochter, ließen sie dann aber doch gewähren, obwohl sie sich einiges von Freunden und Nachbarn anhören mussten. Eine Frau, dazu noch im heiratsfähigen Alter, habe an der Universität nichts zu suchen.
Von der Schülerin zur Lehrerin
Das Selbstbewusstsein und die Unterstützung, die Sanita von Otaharin und dem GIZ-Projekt „Soziale Rechte vulnerabler Gruppen“ erfahren hat, gibt sie seit einiger Zeit an andere Kinder weiter. In ihrer Freizeit unterrichtet sie im Begegnungszentrum Kinder, die auf der Straße leben oder denen ein Leben auf der Straße droht. Heute ist sie es, die in ihrer Siedlung an die Türen klopft und Eltern davon überzeugt, dass ihre Kinder auf der Schule besser aufgehoben sind als auf der Straße. Auch ihrer Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass die Grundschule nun etwa 100 Kinder aus Roma-Familien zu ihren Schülerinnen und Schülern zählt.
Ihre Familie hat sich mit der Zeit daran gewöhnt, dass Sanita die Dinge auf ihre Art macht. Die Eltern sind inzwischen sogar richtig stolz auf die Überflieger-Tochter, die in ihrer Siedlung für viele Kinder eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Vor allem die Mädchen bewundern die Studentin. Viele sagen ihr: „Ich möchte mal so werden wie du.“ Das gibt Sanita Zuversicht, dass sich langfristig doch etwas ändern wird und in Zukunft mehr junge Romnija an sich glauben und ihren eigenen Weg gehen können. „Deswegen ist es so wichtig, dass wir ihnen einen Zugang zu Bildung verschaffen“, sagt sie. „Nur dann bekommen die Mädchen eine andere Perspektive als Heiraten und Hausarbeit.“ Nach dem Studium will Sanita als Erzieherin arbeiten. „So kann ich die Mädchen am besten dabei unterstützen, in meine Fußstapfen zu treten.“
Text: FLMH | Fotos: ©ZORANA MUŠIKIĆ